Wenn Ihr richtiges Usability Engineering betreibt, wisst Ihr, dass dazu auch eine umfassende Anforderungserhebung gehört, damit Ihr nicht hinterher das Problem habt, dass das finale Produkt gar nicht den Bedürfnissen Eurer Endnutzer entspricht. Eine Methode, um die tatsächlichen Nutzungsanforderungen als Basis für die Entwicklung kennenzulernen, sind Kontextinterviews: Reale Endnutzer werden in ihrem tatsächlichen Arbeitsumfeld mittels Interviews befragt. Ihr sorgt dadurch dafür, dass ihr bei Projektstart nicht einfach in irgendeine Richtung (die durch verschiedene Diskussionen der Projektbeteiligten basierend auf Annahmen festgelegt wurde) los- und dabei völlig am Richtigen vorbeiarbeitet.
Bei der Durchführung von Kontextinterviews ist jedoch einiges zu beachten - vor allem, wenn man diese in größeren Unternehmen durchführt. Ich gebe Euch in diesem Beitrag 5 wichtige Tipps und Tricks für die Durchführung, damit Ihr Eure Nutzer erfolgreich verstehen könnt.
Wenn man Kontextinterviews zu einem Thema durchführt, fühlt man sich sehr schnell unwissend. Das mag recht negativ klingen, ist es aber eigentlich gar nicht: Die Personen, die man interviewt, beschäftigen sich mit einem Thema meist täglich und sind in ihrem Bereich Experten, man selbst hat oftmals nur ein Grundwissen. Gerade bei den ersten Interviews wird dann mit (oftmals auch organisatorischen) Abkürzungen um sich geschmissen und man kann leicht denken: „Ich kann jetzt doch nicht schon wieder nachfragen, was das bedeutet.“ Doch, könnt Ihr und solltet Ihr auch, denn nur so könnt Ihr Euch ein umfassendes Bild über die Situation der Nutzer machen. Das Tolle ist: in den nachfolgenden Interviews werden die Begriffe, Abkürzungen, Werkzeuge und alle anderen zu Beginn unbekannten Dinge von den anderen Interviewten meist auch aufgegriffen und dann kennt Ihr diese schon und könnt weiter nachhaken. Seht Euch einfach als Schüler, Eure Interviewten als Lehrer. Ihr merkt sehr schnell, dass Ihr immer mehr zu einem Experten werdet und unglaublich viele Einblicke in komplexe Themenfelder bekommt.
Gerade wenn die Kontextinterviews mit Mitarbeitern eines größeren Unternehmens geführt werden sollen, läuft die Probandenrekrutierung oftmals über das Unternehmen selbst. Wir klären im Vorfeld in einem Kickoff-Workshop, wer die Nutzer des Systems sind und erstellen darauf basierend einen Screening-Fragebogen, der zur Probandenauswahl genutzt wird: ein Verantwortlicher im Unternehmen wählt anhand der darin aufgeführten Kriterien die Probanden aus. Wir erhalten letztlich die Termine zu den Interviews. Jetzt sollte man denken, die ausgewählten Personen seien über den Sinn und Zweck des Interviews informiert, wenn wir uns mit ihnen treffen – doch weit gefehlt: Ich habe in mehreren Projekten die Erfahrung gemacht, dass die Personen völlig unwissend zum Termin gekommen sind, oder nur zwei oder drei Buzzwords zum Thema des Interviews erhalten haben. Es ist dann auch kein Wunder, dass die Personen uns und dem Interview skeptisch gegenübertreten – eine schlechte Ausgangssituation.
Um eine solche Skepsis abzubauen, bietet es sich an, dem Verantwortlichen für die Rekrutierung einen kurzen Informationstext zum Thema und zum Sinn und Zweck des Interviews an die Hand zu geben, mit dem Hinweis, diesen bitte an die ausgewählten Personen weiterzuleiten. Sinnvoll ist es auch, die eigenen Kontaktdaten für weitere Rückfragen mit auf diesem Zettel anzugeben, um bei Bedarf vorhandene Unsicherheiten in einem Telefongespräch beseitigen zu können. Trotzdem sollte man sich zu Beginn des Interviews ausreichend Zeit lassen, um noch einmal im Detail zu erklären, wofür das Interview dienen soll und was mit den Aussagen der Person genau geschieht.
Aufgrund der vorher spärlich vorhandenen Informationen ist mir die Aussage: „Ich weiß gar nicht so richtig, was ich hier soll. Ich bin für das Thema kein Experte. Ich kann Ihnen da gar nicht viel zu sagen.“ schon oft begegnet. Dies liegt meiner Meinung nach auch daran, dass der tatsächliche Nutzer bis heute eher selten bei der Anforderungserhebung einbezogen wird, sondern dies meist noch auf einer höheren Management-Ebene geschieht. Wichtig ist es daher, dem zu Interviewenden das Gefühl zu geben, dass sein Beitrag wichtig ist und dass er sehr wohl viel zu dem Thema berichten kann. Es ist daher sinnvoll, zu Beginn des Interviews Fragen zur Rolle und zu den Aufgaben des Interviewten zu stellen (z. B. „Erzählen Sie kurz, welche Tätigkeiten Sie im Unternehmen ausführen“). Diese Fragen sind für die Personen leicht zu beantworten und sie gelangen in einen Redefluss. Ich gehe dann im Laufe des Interviews immer mehr ins Detail und hake nach, ohne dass es den Interviewten wirklich bewusst wird. Hinterher habe ich schon oft das überraschte und auch erleichterte Feedback erhalten: „Dass ich 1,5 Stunden über dieses Thema sprechen kann, hätte ich nicht gedacht.“
Ich hatte zu Beginn schon von Screening-Fragebögen gesprochen. Diese sind für eine erste Auswahl von wichtigen Personen für die Interviews sehr hilfreich. Ich habe aber auch schon oft die Erfahrung gemacht, dass während eines Interviews Aussagen kamen, wie: „Ich kann zu diesem bestimmten Punkt jetzt nicht ganz so viel sagen, aber mein Kollege, Herr X, hat damit täglich zu tun.“ Ich gelange also durch die Interviews an potentielle weitere Interviewkandidaten und kann jeweils bewerten, ob ich diese ebenfalls kontaktierte, um detaillierter auf bestimmte Fragestellungen einzugehen. Ihr könnt so an wirklich wertvolle weitere Informationen gelangen und solltet Euch daher zu Beginn den Interviewplan noch nicht zu voll machen, sondern immer Termine für weitere Personen frei halten.
Auch wenn ich den Interviewten natürlich genau erzähle, was der Sinn und Zweck des Interviews ist und was mit ihren Aussagen geschieht, ist dennoch für die meisten unklar, was ihr Engagement in dem Thema wirklich bringt. Ich habe hier gute Erfahrung damit gemacht, die Interviewten alle zu einer Abschlusspräsentation einzuladen – am besten, nachdem die grundlegenden Ergebnisse auf Management-Ebene abgesprochen sind und erste Handlungsschritte abgeleitet wurden. Das hat den großen Vorteil, dass ich den Interviewten die übergreifenden Ergebnisse mitteilen kann, aber ihnen auch schon aufzeigen kann, welche positiven Konsequenzen sich durch ihr Mitwirken ergeben haben. Auch hier zeigen sich viele der Interviewten im Nachhinein überrascht. Beispielsweise bekam ich von einem Interviewten das Feedback: „Wir kämpfen schon so lange für eine Verbesserung im Tool. Jetzt haben ich und meine Kollegen jeder nur etwas mehr als eine Stunde für ein Interview aufgewendet und es kommt ein umfassendes Dokument dabei heraus, das unser Management überzeugt, nächste Schritte einzuleiten. Ich hätte nicht gedacht, dass das so gut funktioniert.“ Durch diese positive Grundstimmung kommen dann zum Teil nochmal weitere relevante Aspekte ans Licht, wenn sich die Interviewten im Nachhinein gemeinsam in einer Diskussionsrunde zu den Ergebnissen austauschen. Vergesst also nicht, hier nochmal Papier und Stift bereit zu halten.
Die zuvor beschriebenen Tipps beziehen sich vor allem auf die Durchführung der Interviews. Wichtig für die erfolgreiche Anforderungsableitung ist natürlich auch die Auswertung. Ich habe Euch dafür eine Liste mit weiteren Tipps und Tricks zusammengestellt, die Euch bei der Auswertung helfen.