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Es gibt verschiedenste Usability-Methoden, um die Gebrauchstauglichkeit von Softwareprodukten in der Entwicklung voranzutreiben. Von einer genauen Anforderungserhebung in Workshops zusammen mit dem Kunden, über die Generierung von Nutzerprofilen und Personas, bis hin zum Bau von Prototypen mit anschließendem Usability-Testing. Trotzdem lassen sich diese Methoden nicht immer problemlos in jeden Projektablauf integrieren. Auch verhindert unter Umständen das beschränkte Projektbudget den Einsatz von Usability-Maßnahmen. Doch wie kann ausgerechnet der Einsatz von Normen hierbei helfen?


Checklist-Test


Die
DIN EN ISO 9241-110, erstmals 1995 unter dem Namen DIN EN ISO 9241 - Teil 10 veröffentlicht, gehört zweifelsohne zu den Klassikern im Bereich der Normung von Benutzungsschnittstellen hinsichtlich der Erlangung von Gebrauchstauglichkeit. Dabei beschreibt sie sieben Grundsätze für die Gestaltung von Dialogen – also dem Austausch von Informationen zwischen dem Nutzer und dem Softwaresystem. Die Gestaltung von Dialogen bezieht sich dabei auf die ergonomische Entwicklung des Systems und die Bewertung von Benutzungsschnittstellen zwischen dem User und dem Interface. Diese Dialogprinzipien lassen sich wie folgt beschreiben:


1. Aufgabenangemessenheit

Das Ziel eines jeden Nutzers ist die korrekte und vollständige Erledigung einzelner Arbeitsaufgaben, die er mit dem Softwaresystem lösen möchte. Wird der Nutzer dabei ausschließlich mit Funktionalitäten und einem Dialogsystem unterstützt, das explizit auf seine jeweilige Arbeitsaufgabe ausgerichtet ist, dann gilt das System als aufgabenangemessen.

Beispiel: Der Nutzer möchte etwas in einem Onlineshop bestellen. Idealerweise zeigt ihm das System hierfür nur die Informationen an, die zum Auslösen des Bestellvorganges benötigt werden, wie z. B. den Warenkorb mit allen Lieferzeiten zur erneuten Kontrolle und ggf. Änderung von Positionen, die Eingabefelder für die persönlichen Daten des Nutzers und seine Zahlungsinformationen etc.


2. Selbstbeschreibungsfähigkeit

Ein Nutzer kann sich bei einer Fülle an Einzelaufgaben und einer komplizierten Systemarchitektur schnell in der Software “verlieren”. Damit dies nicht geschieht, sollte die Software selbstbeschreibungsfähig gestaltet werden und dem Nutzer jederzeit angezeigen, wo er sich aktuell im System befindet und welche Handlungen er dort wann und in welcher Form ausführen kann.

Beispiel: Der Nutzer möchte online ein Auto mieten. Auf der Website des Anbieters werden ihm alle notwendigen Schritte angezeigt, die er durchlaufen muss, um das Fahrzeug zu mieten. Hierbei werden ihm zudem seine aktuelle Position im Mietvorgang, seine noch zu tätigenden Eingaben und die Benachrichtigung beim erfolgreichen Abschluss eines Schrittes angezeigt.


3. Erwartungskonformität

Jeder Nutzer löst bei der Interaktion mit einem Softwaresystem eine große Zahl an Aktionen aus. Jedoch reicht es nicht, dass diese Aktionen still im Hintergrund laufen – sie müssen dem Nutzer angezeigt werden, damit er beispielsweise die Auswirkung oder Dauer einer Aktion einschätzen und ggf. eingreifen kann. Damit ein System als erwartungskonform gilt, sollte dies dabei immer unmittelbar zur Nutzeraktion und passend zum jeweiligen Aufgabenkontext geschehen.

Beispiel: Der Nutzer startet ein Softwareupdate. Das System zeigt dabei den genauen Fortschritt des Installationsvorganges an und gibt bei korrektem Abschluss der Installation eine entsprechende Rückmeldung aus.


4. Lernförderlichkeit

Das Erlernen der korrekten Bedienung einer Software kann unter Umständen sehr schwierig und zeitaufwändig sein. Damit der Nutzer dies trotzdem allein realisieren kann, sollte die Software lernförderlich gestaltet sein. Dabei werden ihm vom System Hilfsfunktionen zur Seite gestellt, die ihn dabei unterstützen und anleiten.

Beispiel: Beim Start einer neuen, noch nicht genutzten Softwareanwendung wird dem Nutzer über ein sich öffnendes Dialogfenster ein Tutorial angeboten, das detailliert den Aufbau, den Funktionsumfang und die Bedienung der Anwendung erklärt.


5. Steuerbarkeit

Wenn ein Nutzer mit einem Softwaresystem interagiert, so sollte der Dialog zwischen den beiden Parteien vom Nutzer gesteuert werden können. Möchte er also ein bestimmtes Ziel mit dem System erreichen, kann er den Dialog mit dem System einleiten, lenken und in seiner Geschwindigkeit beeinflussen.

Beispiel: Der Nutzer arbeitet mit einem Textdokument einer Office-Anwendung. Dabei löscht er versehentlich einen Absatz seines Textes. Über eine Widerruf-Funktion (Undo-Schaltfläche) innerhalb der Anwendung kann er diese Handlung jedoch rückgängig machen und erhält so den vorangegangenen Arbeitsstand.


6. Fehlertoleranz

Wenn ein Nutzer mit einer Software arbeitet, entstehen automatisch Fehler. Jedoch sollte seine bisherige Arbeit dadurch nicht ungültig werden. Das System sollte daher möglichst tolerant gegenüber Fehlern des Nutzers sein. Zum einen kann die Software durch entsprechende Hinweise gegenüber dem Anwender etwaige Fehler im Vorhinein vermeiden. Sollten doch fehlerhafte Eingaben durch den Nutzer erfolgen oder falsche Aktionen ausgelöst werden, so muss er seine Aufgabe trotz dessen mit minimalem oder keinem Korrekturaufwand abschließen können.

Beispiel: Der Nutzer hat einige Änderungen an einem Textdokument einer Office-Anwendung vorgenommen und möchte die Anwendung jetzt schließen. Jedoch hat er vergessen, dass diese Änderungen noch nicht gespeichert wurden. Das System registriert dies und öffnet ein Dialogfenster, in dem der Nutzer nun die Wahl treffen kann, ob er das Dokument tatsächlich ohne vorheriges Speichern der Änderungen schließen oder den Speichervorgang an dieser Stelle nachholen möchte.


7. Individualisierbarkeit

Die Barrierefreiheit von Softwaresystemen ist ein weiteres wichtiges Thema in puncto Usability. So möchten bspw. Nutzer mit körperlicher Beeinträchtigung die Software trotzdem uneingeschränkt nutzen können. Um dies zu erreichen, muss das System individualisierbar sein, d. h. der Nutzer kann zum Beispiel die Darstellung von Informationen verändern, um diese an seine individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse anzupassen.

Beispiel: Ein Nutzer mit einer starken Beeinträchtigung der Sehleistung möchte einen Text in einer Softwareanwendung lesen, jedoch ist die voreingestellte Schriftgröße für ihn zu klein. Also kann er über die entsprechenden Settings eine andere Schriftgröße für die Textdarstellung wählen und diese somit an seine Sehfähigkeit anpassen.

Dies alles sind natürlich nur Beispiele. Die Anwendbarkeit der beschriebenen Prinzipien sollte immer im jeweiligen Nutzungskontext betrachtet und in diesem umgesetzt werden.

Inwiefern können nun aber Normen, wie die DIN EN ISO 9241-110, UX-Praktiker in ihren Designentscheidungen unterstützen und welchen Mehrwert bietet ihr Einsatz?


Die Dialogprinzipien in der Praxis

Gerade wenn ein Projekt, wie in der Einleitung beschrieben, über ein geringes Budget verfügt oder der Einsatz von Usability-Methoden aus zeitlichen Gründen schwierig ist, ist es ratsam, geltende Usability-Normen zu Rate zu ziehen. Denn sie bieten nicht allein ein bloßes Konstrukt zur Beschreibung und Klassifizierung, sondern außerdem einen praxisbezogenen Leitfaden zur ergonomischen Gestaltung von Benutzungsschnittstellen. Zudem lässt ihre zumeist offene Formulierung einen ausreichenden Gestaltungsspielraum für die freie Entwicklung und ermöglicht bereits bei der Einhaltung einzelner Richtlinien eine gute Basis für die Steigerung der Benutzungsfreundlichkeit bzw. Gebrauchstauglichkeit von Softwaresystemen.

Der Mehrwert der Normanwendung zeigt sich darin, dass bereits ohne die Evaluation durch den Benutzer oder die sonstige Anwendung von Usability-Methoden ein Mindestmaß an Gebrauchstauglichkeit erreicht werden kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt liegt in der fundierten Begründung von Designentscheidungen. Unter Umständen kann das Design von Software sehr subjektiv bewertet werden, sodass der Einsatz der Standardisierungsnorm als validierte und anerkannte Quelle eine gute Möglichkeit bietet, mit eventueller Kritik oder Skepsis umzugehen. Auch können innerhalb eines iterativen Entwicklungsprozesses mit Hilfe der Norm, Prototypen hinsichtlich der Gebrauchstauglichkeit der Dialogführung überprüft und beurteilt werden.

Nun könnte man denken, dass Normen, die Mitte der 90er-Jahre entstanden sind, ein ziemlich alter Hut sind und selbst ihre Aktualisierung vor 12 Jahren schon längst wieder überholt ist. Doch dem ist nicht so, denn sie enthalten immer noch Empfehlungen, die dem State-of-the-Art im Bereich Usability entsprechen und zudem gibt es auch heute noch Softwareprodukte am Markt, die nicht über ein ausreichendes Maß an Gebrauchstauglichkeit bzw. Benutzungsfreundlichkeit verfügen.

Der Einsatz der Usability-Norm DIN EN ISO 9241-110 dient also nicht der Vereinheitlichung von Software, sondern stellt ein Referenzdokument dar, das dem UX-Praktiker wichtige Fragen bzgl. der Dialoggestaltung zwischen Mensch und Maschine beantworten kann und unter Umständen auch einen roten Faden für Designentscheidungen bieten.

Der Gestaltungsspielraum der Softwareentwicklung wird dabei nicht von der Norm begrenzt, sondern bietet als Basis ein Mindestmaß an Usability, um darauf aufbauen zu können.


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