Vor einiger Zeit kam ein Kollege auf mich zu und erzählte mir von einem Emotions- und Bedürfnis-Kartendeck, das ihm schon in verschiedensten Situationen, wie Mitarbeitergesprächen oder zwischenmenschlichen Beziehungen, helfen konnte, tiefgehende Probleme aufzudecken.
Daher kam mir der Gedanke, dieses Kartenset auch für die Sprint-Retrospektive in zwei Teams einzusetzen.
Im Folgenden berichte ich euch, wie ich die Bedürfniskarten eingesetzt habe und welche Ergebnisse ich damit erzielen konnte. Eins kann ich schonmal vorwegnehmen: Ich kann sie jedem nur empfehlen.
Was sind Emotions- und Bedürfniskarten?
Konkret habe ich die Coachingkarten „Emotionen und Bedürfnisse“ von xpand und acht-ideen eingesetzt.
Der Grundgedanke des Kartensets besteht darin, dass wir in unserem (Arbeits-)Leben viele unangenehme Emotionen wie Frustration oder Gereiztheit verspüren, weil bestimmte menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden.
Das kann zum Beispiel das Bedürfnis nach Sicherheit, Zugehörigkeit oder Beachtung sein. Werden diese Bedürfnisse jedoch berücksichtigt, entwickeln sich positive Emotionen, wie Optimismus oder ein Gefühl von Glück.
Das Set besteht daher aus roten Karten, die negative Emotionen wiederspiegeln, blauen Karten für positive Emotionen und grünen Karten, auf denen Bedürfnisse abgebildet sind. Sie sollen dabei helfen, emotionale Kompetenz aufzubauen, beispielsweise in Mitarbeitergesprächen.
Wie habe ich die Bedürfniskarten in der Sprint Retrospektive eingesetzt?
Emotionen und Bedürfnisse spielen auch in Entwicklungsprojekten eine große Rolle, denn wir arbeiten in Teams zusammen, deren Mitglieder natürlicherweise alle unterschiedliche Bedürfnisse haben. Je nachdem, ob diese Bedürfnisse befriedigt werden, kann sich das positiv oder negativ auf die Stimmung im Team auswirken.
In den beiden Retrospektiven, die ich moderierte, habe ich das Kartenset wie nachfolgend beschrieben eingesetzt:
Phase 1: Positive Emotionen erfragen
Zunächst habe ich die Karten zu den positiven Emotionen einzeln nacheinander auf einen Tisch gelegt und die Teammitglieder gebeten, die Hand zu heben, wenn eine Emotion auf sie zutrifft. Hat mindestens ein Teammitglied die Hand gehoben, habe ich diese Karte auf dem Tisch gelassen.
Karten mit Emotionen, die kein Teammitglied verspürt, habe ich zur Seite geschoben (aber nicht vollständig weggenommen, falls diese Emotion in den späteren Diskussionen doch noch zur Sprache kommt).
Phase 2: Negative Emotionen erfragen
Dasselbe Vorgehen habe ich auch für die negativen Emotionen angewendet: Alle Emotionen, die im Team auftreten, habe ich (räumlich etwas von den positiven Emotionen getrennt) auf dem Tisch gesammelt. Wichtig ist in beiden Phasen, dass alle ausgewählten Karten für alle Teammitglieder gut sichtbar sind.
Phase 3: Bedürfnisse und Emotionen zuordnen
Jetzt kommt der wirklich spannende Teil: Auf der linken Seite des Tisches befanden sich nun die negativen, auf der rechten Seite die positiven Emotionen. Dazwischen hatte ich etwas Freiraum gelassen und fing an, die Bedürfniskarten einzeln nacheinander aufzudecken und in die Mitte zu legen. Für jede Karte bat ich das Team, zu erzählen, welche Emotion es im Zusammenhang mit diesem Bedürfnis gab.
Konkret lief das beispielsweise so ab: Ich deckte die Bedürfniskarte „Zugehörigkeit“ auf und fragte in die Runde, was das Team in diesem Kontext empfand. Ein Teammitglied wählte die negative Emotionskarte „Distanziert“ aus und begründete die Wahl damit, dass es aktuell wenig das Gefühl hat, dem Team zuzugehören und nannte dabei auch einen Grund.
Andere Teammitglieder schlossen sich dieser Wahrnehmung an, andere wählten andere Emotionskarten. Je nachdem, welche Emotionskarten gewählt wurden, schob ich sie an die Bedürfniskarte.
Nachdem wir alle Bedürfniskarten auf diese Art und Weise besprochen hatten, hatte sich ein Geflecht aus verschiedenen Emotionen und Bedürfnissen gebildet.
Was ist dabei herausgekommen?
Dadurch, dass die Bedürfniskarten die Ausgangsbasis für die Diskussionen sind, haben sich in beiden Retrospektiven Aspekte aufgetan, die sonst vielleicht nie zum Vorschein gekommen oder laut ausgesprochen worden wären.
Das Problem an herkömmlichen Retrospektiven ist vielfach, dass sie wenig an der emotionalen Ebene ausgerichtet sind, sondern oftmals nur gesammelt wird, was gerade positiv oder negativ ist. Man kratzt stark an der Oberfläche.
Die Bedürfniskarten jedoch sind sehr generisch gestaltet und bieten so die Möglichkeit für jeden, sie auf sich selbst und das eigene Empfinden zu übertragen. Ich war an vielen Stellen erstaunt, dass im Team Emotionen bestehen, die ich nicht erwartet hätte und konnte auf der anderen Seite Ursachen für Emotionen finden, die ich zwar wahrgenommen, für die ich aber nur (vermutete) Gründe hatte.
Mein Fazit
Ganz ehrlich: Ich bin von den Karten begeistert. Ich hätte nicht erwartet, dass sie so gut funktionieren und so viel zu Tage bringen. Das Wertvolle an dem Ansatz ist, dass wir nicht einfach hingehen und sagen: „Die Stimmung im Team ist schlecht und ihr seid alle gereizt.“ In diesem Fall können sich Teammitglieder schnell angegriffen und in die Ecke gedrängt fühlen.
Der Umweg über die Bedürfnisse dreht das Ganze jedoch um: Die Karten helfen jedem Mitglied dabei, zu formulieren, dass ein Bedürfnis in irgendeiner Form nicht berücksichtigt wird. Dabei wird fast automatisch auf Emotionen verwiesen und auch deren Ursprung offenbart.
Die Gründe aufzudecken, ist natürlich nur eine Sache. Wichtig ist, Lösungen für die Probleme zu finden. Aber auch hier bin ich beeindruckt, was die Karten bewirken. Man hat eine perfekte Ausgangsbasis: Das gesamte Team ist in einer ganz bestimmten Stimmung, da es merkt: Hier läuft etwas emotional nicht gut, Teammitglieder fühlen sich schlecht. Meine Annahme ist, dass das Team dadurch viel offener dafür wird, gute Lösungen zu finden.
Grundsätzlich muss ich aber auch sagen, dass diese Methode sicherlich nicht in jeder Retrospektive eingesetzt werden sollte – das wäre zu viel. Doch wird sie in längeren Abständen immer mal wieder hervorgeholt, kann das Team der Ursache für Stimmungen auf den Grund gehen und natürlich auch vergleichen, ob sich etwas durch die Lösungen verbessert hat.
Grundsätzlich muss man sicherlich auch die Charakter im Team berücksichtigen: Nicht für jeden ist diese Methode der richtige Weg, das ist einfach Typsache.
Nichtsdestotrotz: Ich kann meine Aussage vom Anfang zu wiederholen. Ich bin begeistert und kann euch nur empfehlen: Probiert es aus, ihr werdet erstaunt sein, was alles zu Tage kommt.
Wo kann man die Karten noch einsetzen?
Neben dem Einsatz in der Sprint Retrospektive kann ich mir auch viele weitere Anwendungsfälle vorstellen, in denen die Karten eingesetzt werden können. Einige hatte ich schon genannt, wie Mitarbeitergespräche oder zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber auch im Usability Engineering kann ich mir den Einsatz gut vorstellen, denn hier geht es essentiell um Bedürfnisse der Nutzer.
Gerade für die Vorbereitung von Interviewleitfäden oder die Interpretation der Ergebnisse aus Kontextinterviews oder Usability-Evaluationen können die Karten gute Hilfestellung geben, um die tatsächlichen Nutzer-Bedürfnisse zu identifizieren.
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